Kluft zwischen Kinoliebhaber und VR

(fig. Darrow, Everett Collection (Andrews) ; F. Martin Ramin, The Wall Street Journal, in: www.wsj.com)

Im Dezember 2018 veröffentlichte die französische Filmzeitschrift « Cahiers du cinéma » seine 750. Ausgabe mit dem Titel „In welche Welt treten wir ein?“ („Dans quel monde entrons-nous?“). Die renommierte Zeitschrift, welche seit 1951 monatlich Filmkritiken, Interviews und Berichte über die audiovisuelle Branche liefert und eminente Persönlichkeiten wie Jean-Luc Godard, François Truffaut, Eric Rohmer oder Claude Chabrol als Kritiker angestellt hat, widmet diese letzte Ausgabe den neuen Technologien und Werkzeugen, welche immer mehr der Kinowelt beeinflussen (User Experience, „Persuasive Design“, Eye Tracking, Computer Algorithmen und VR).

Das Thema der Ausgabe wurde im Editorial erklärt, welche den Titel eines SF/Horrorromans von H.G.Wells übernimmt: „La Guerre des mondes“ (War oft he Worlds).1. „Man schafft weniger Filme und Serien als Inhalt, und dieser Inhalt wird weniger von Sendern ausgestrahlt als von den Dispositiven gesteuert. Wir müssen also anfangen, diese Dispositive zu verstehen. Wir müssen feststellen, dass Netflix mehr mit Facebook als mit dem Kino zu tun hat. Wir müssen verstehen, dass es Amazon ist – ein Serienschuhverkäufer –, der Shows in Serie produziert und dass Apple sich das Ziel gesetzt hat, eine Milliarde Menschen zu VR zu bekehren.“2. schreibt Stéphane Delorme, Leiter des Editorial Komitees. Er bedauert, dass die Idee vom Kino als Kunst langsam verschwindet, dass die neuen Technologien in dem audiovisuellen Bereich das Kino zu einem rein informativen Medium reduzieren.3.

Stéphane Delorme entwickelt seine Kritik in einem weiteren Artikel der Ausgabe namens „Totalitarisme Tech. Designing minds: changer l’humain“ (Ss.14-16). Hier bedauert er, dass der Zuschauer immer mehr als Benutzer (User) wahrgenommen wird und dass „die Interaktion im audiovisuellen Bereich, den von Natur her passiven Zuschauer tötet“4.: „Man behauptet zu wissen was Sie wollen, aber Sie wollen nichts.“5. erklärt er. Die Interaktion ist eine Illusion der Freiheit, welche für konditionierte Gehirne gemacht ist, um der Interesse von Unternehmern zu dienen.

Mit dem Thema Eye Tracking scheint sich die Kritik der Cahiers du Cinéma abzumildern. Dork Zabunyan („Eye Tracking, traquer le regard“, Ss.22-23) erwähnt zwar, dass die Methode aus dem Marketing Bereich abstammt, aber betont, dass die okularen Bewegungen auf fixe oder bewegliche Bilder schon seit dem 18. Jahrhundert, Philosophen und Künstler beschäftigt haben6. Ebenso spricht er von Sergei Eisenstein und seiner Sorge um die „Modellierung des Blicks“, sowie die Wille Alfred Hitchcocks den Zuschauer zu dirigieren.7.

 

(fig. Eye Tracking, Иван Грозный , Ivan the Terrible, Sergei Eisenstein, In: Zabunyan, D., „Eye Tracking, traquer le regard“, In: Cahiers du Cinéma, n°750, Dezember 2018, Ss.22-23)

Der Bericht endet mit einem Artikel, welcher VR gewidmet ist: „VR: vider le regard?“ (VR: den Blick ausleeren?) von Cyril Béghin (Ss.39-40). Zuerst erwähnt der Verfasser die verschiedenen Geräte, welche für VR zur Verfügung stehen, betont, dass die Technologie noch in Entwicklung ist und dass die „großen Unternehmen“ schon auf eine Weiterentwicklung der Technologie setzen: die Mixed reality, „eine neue groteske Formel“ („cette nouvelle formule ubuesque“8.), in welchem der Blick wortwörtlich entleert wird, um Funktionen zu aktivieren.9. Er spricht hier vom Sucher-Auge („œil viseur“) und vergleicht die Technik mit einem gewalttätigen Sniper-Spiel.10. Ebenso pamphletiert er die aktuelle Gewohnheit Filme auf Smartphones anzusehen: „Die Zukunft gehört den Zombies und der augmentierten visuellen Verschmutzung“11. Der Artikel endet allerdings mit einem positiven Ton, insofern, dass der Verfasser das Potenzial von VR in Dokumentarfilmen sieht: „Wenn das Virtuelle die Realität unterstützt“12.

Die Grotte von Chauvet, ARTE360, 2017
https://www.youtube.com/watch?v=O0YsTFcYxvE

Dreharbeit von  High Life, arte.tv
https://www.arte.tv/sites/olivierpere/2018/10/24/sur-le-tournage-de-high-life-de-claire-denis/

Millions March, Spike Jonze
https://www.youtube.com/watch?v=N9cZRfp6mOA

(fig.Ready Player One, Steven Spielberg, 2018)

Die harte Kritik der Cahiers du Cinéma – auch wenn sie konservativ und manichäisch klingt – ist das Syndrom eines Bruchs zwischen traditionellen Kinoliebhabern, Filmkritikern und Regisseuren, welche sich an dem romantischen und vielleicht elitären Bild eines stolzen und klugen Kinos auf großer Leinwand gebunden sind, und die Entwicklung neuer audiovisueller Träger und Gewohnheiten. Sie könnte auch das Syndrom in der Erweiterung der Branche an neue Bereich wie Design oder Marketing sein, welche noch teilweise als Fremdkörper wahrgenommen sind. Wenn die 360 Grad Videos und VR sich allerdings weiterentwickeln sollten, wird es notwendig sein, diesen Bruch auszugleichen oder ihn zumindest nicht zu ignorieren.

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1.Delorme S.,„La guerre des mondes“ (Editorial), In: Cahiers du Cinéma, n°750, Dezember 2018, S.5
2. Ebenso.
3. Ebenso.
4.Delorme, S., « Totalitarisme Tech. Designing minds : changer l’humain », In : Cahiers du Cinéma, n°750, Dezember 2018, Ss.14-16, Seite 15.
5. Ebenso.
6. Diderot, Croniques des Salons; Paul Klee, Schriften; Laszlo Moholy-Nagy, Vision in motion, Zitiert in: Zabunyan, D., „Eye Tracking, traquer le regard“, In: Cahiers du Cinéma, n°750, Dezember 2018, Ss.22-23, S.23
7. Ebenso.
8. Béghin, C., „VR: Vider le regard“, In: Cahiers du Cinéma, n°750, Dezember 2018, Ss.39-40, S.39
9. Ebenso, S.40
10. Ebenso.
11. Ebenso.
12. Dreharbeit – High Life, Claire Denis; Die Grotte von Chauvet, ARTE360; Millions March, Spike Jonze; Ebenso.

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