From Illusion to Immersion

 (fig. Pompeii Mysteries Villa, In:Millesima, I., “Pompeii Mysteries Villa: a Gentle Flowing with Mystica Vannus”, url: www.labyrinthdesigners.org)
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Bericht: Grau, O. (2003), Virtual Art : From Illusion to Immersion, the MIT Press Cambridge, Massachusetts, London, England.
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2003 veröffentlichte Oliver Grau, deutscher Kunsthistoriker, Medientheoretiker und Professor für Bildwissenschaften an der Donau-Universität Krems1, eine Monographie namens „Virtual Art: From Illusion to Immersion“, welche eine historisch vergleichende Bild-Betrachtertheorie der Immersion sowie eine systematische Analyse der Trias von Künstler, Werk und Betrachter unter den Bedingungen Digitaler Kunst enthält.  Grau beschreibt die Virtualität als eine hauptsächlich menschliche Beziehung zu den Bildern und zeigt, wie sich diese Beziehung, in alten wie auch in neuen Medien, auf ein Verlangen nach Illusion bezieht.2 Durch ein multidisziplinäres Vorgehen, welche Kunstgeschichte, Engineering, Media- und Kulturtheorien, Architektur, Literatur, Computerwissenschaft und Kino einrechnet, biete Grau eine Analyse, welche hilft, Fragen über die Darstellungsfunktionen des Bildes und den paradoxalen Charakter der VR zusammenzufassen3.

Das zentrale Argument dieser Monographie ist, dass die Idee, den Zuschauer in einem hermetisch versiegelten Bildraum der Illusion unterzubringen, nicht mit der technischen Erfindung der computergestützte VR, ihre erste Erscheinung gemacht hat. Viel mehr – erklärt Grau – wäre sie in der  Kunsttradition verankert, welche im Laufe der Geschichte Rupturen und Diskontinuitäten ertragen hat, Untertan der spezifischen Medien ihrer Epochen ist und genutzt wurde, um Inhalte von unterschiedlichen Quellen zu vermitteln.4 Er lässt diese Tradition der Illusion, zurück auf die Antike und ihre von Fresken bedeckten Räumen reichen, und beschreibt chronologisch verschiedene technischen Erfindungen, ihre soziale und ideologische Bedeutungen, sowie wirtschaftliche Modelle, welche ihre Erfolg bewiesen haben. Auf diese Art, analysiert Grau ikonographische Programme von verschiedenen Prachträumen des Mittelalters, Perspektiven von Illusionsräumen der Renaissance, gemalte Panorama Landschaften des 18. und 19. Jhdt., cinematografische Experimente des 20.Jhdts, multisinnliche Displays wie den Sensorama oder die Feelies5 von Aldoux Huxley, „expanded cinema“, Fernanwesenheitskunstwerke und vieles mehr.


(fig. Erste Werk, welche die Decke als Raum der Illusion wahrnimmt6 – Oculus in the Camera degli Sposi, Andrea Mantegna, 1474)

Neben diesem sehr detaillierten chronologischen Überblick bietet Oliver Grau eine Reihe von Konzepten und Begriffe, welche bei mehreren dieser Illusionstechniken Thema waren. Um die Vollkommenheit des umgebenden Raumes zu betonen, erklärt er, wurde die im Raum dargestellte Aktion oft in Verbindung mit einer symbolischen Rechtfertigung dieser Aktion in Szene gesetzt. So verleihen zum Beispiel die physisch anwesenden Götter in dem Fresko in Pompeii Sinn an die dargestellte dionysische Zeremonie.7 Ebenso wurden oft mehrere Landschaft Schichten innerhalb des dargestellten Raums, aber auch außerhalb – durch sogenannten ‚Faux Terrains‘ –, genutzt um den Eindruck einer größeren Tiefe zu erzeugen, welche einen künstlerischen Raum schafft, in den der Zuschauer integriert wird.8 Die Funktion der ‚Faux terrains‘, schreibt Grau, ist es, die Grenze zwischen dem realen Raum und der der Illusion zu verwischen.9 Diese Tendenz wurde weiterverfolgt bis zur Mündung von Sutherlands Idee des „ultimate Display“ (1965), das Konzept von Mixed Reality oder der des körpernahem head-mounted display(1966).10


(fig. Faux Terrain, Panorama Einsiedeln, faux terrain with pilgrim tent)

Grau thematisiert die Frage der „richtigen“ Distanz zwischen dem Zuschauer und dem illusionistischen Apparat. Im 19. Jahrhundert wurden beispielsweise kleine Balustraden zwischen dem Zuschauer und den Gemälden in den Panorama-Rotunden platziert, so dass das Publikum sich nicht zu sehr annähern musste und die Illusion dadurch wahrte.11 Ebenso spricht Grau von dem rekurrenten Streit zwischen den Verteidigern der „magischen“ Kraft der Illusion, welche den Zuschauer kostengünstig an weit entfernte Orten transportieren kann, und die Gegner der irreführenden, für die Wahrnehmung gefährliche Illusion, welche nie so perfekt wie die Natur12 selbst sein kann und den Zuschauen in einem Platos-Höhle-ähnlichen Zustand lässt.13 Grau nimmt an der Debatte Teil und zitiert den russischen Regisseur Andrey Tarkovsky. Er charakterisiert Filme und immersive Welten als eine „emotionelle Realität“, welche es dem Zuschauer erlaubt, eine „zweite Realität“ zu erleben.14 Grau erklärt, dass sich auch in den Zeitaltern, in welchen der Mimetismus der immersiven Darstellung im Vordergrund war, Künstler viel Freiheiten in der Komposition nahmen, aber auch selbst in Repräsentation reeller Ereignisse.15

Grau zieht aus seiner Monographie, dass nur, wenn ein neues Bildmedium der Illusion eingeführt wurde, welches fähig ist, einen Überschuss an Illusionskraft darzustellen, wird es möglich die Suggestionskraft zu erhöhen.16 Deswegen, erklärt er, wurden in der Vergangenheit immer wieder neue Geräte und Techniken erfunden. Trotz der schnell wechselnden medialen Technologie, schreibt er, scheint die Idee des 360°-Bildmaterials ein andauerndes Phänomen zu sein, welche darauf abzielt, den Zuschauer in das Bild zu transportieren, die Distanz zum Bildraum zu annullieren, die Illusion zu intensivieren und die Macht des Kunstwerks auf den Zuschauer zu verstärken.17 Grau extrapoliert daraus eine allgemeine Regel: das Prinzip der Immersion wird genutzt, um den Mediums Apparat der Illusion aus der Wahrnehmung des Zuschauers zu entfernen, sodass die durch das Medium transportierte Botschaft verstärkt wird. Das Medium wird unsichtbar.18 Letztendlich definiert Grau drei Hauptmotive, welche die Geschichte der immersiven Medien charakterisiert: (a) die Tendenz in der Richtung von Illusion durch Dimensionen, Farbe, Proportionen, Plastizität und Beleuchtung; (b) Die Bewegung; (c) die Option mit dynamisch, ständig neuberechneten Bildern zu interagieren, welche immer mehr die unterschiedlichen Sinne in Anspruch nehmen.19

Grau versucht hier nicht verschiedene technischen Erfindungen der Illusion in ein lineares Entwicklungsmodell zu komprimieren. Um seine Absicht zu unterstreichen, zitiert er sogar Adorno in dem Vorwort seines Buches:

Theodor W. Adorno warned, may be negated in the interests of drawing comparisons:‘‘All the same, nothing is more damaging to theoretical knowledge of modern art than its reduction to what it has in common with older periods. What is specific to it slips through the methodological net of ‘nothing new under the sun’; it is reduced to the undialectical, gapless continuum of tranquil development that it in fact explodes. . . . In the relation of modern artworks to older ones that are similar, it is their differences that should be elicited.’’20
Adorno (1973), p. 36 (Engl. trans., Adorno 1997, S. 19

Doch er schafft es allgemeine Problematiken zu definieren, welche er als inhärent zu der menschlichen Beziehung mit bildlichen Medien sieht. Auch wenn diese Problematiken nachvollziehbar sind, könnte man sich trotzdem fragen, ob eine durch die Geschichte der Menschheit allgemein gültige Ansicht auf die Funktion und Werte der Bilder überhaupt plausibel ist. Wenn Geschichtsschreibung zwangsläufig durch den Kontext beeinflusst ist, in welcher die Geschichte geschrieben ist, bleibt die Monographie Graus eine interessante neue Ansicht auf unsere heutige Vorstellung der Virtuellen Welt.


1.„Zur Person“ in: „Univ.-Prof.Dr. Oliver Grau“, url: donau-uni.ac.at
2.“Forword”, In: Grau, O. (2003), Virtual Art : From Illusion to Immersion, the MIT Press Cambridge, Massachusetts, London, England, S.1
3.Ebenso.
4.Ebenso, S. 4
5.Aldous Huxley beschrieb in seiner Anti-Utopie Brave New World (1932) die Feelies als zukünftige illusionistische Kinoform – plastisches Raumbild, synthetische Ton- und Geruchsorgeleffekte, Tasteffekte. Nach Huxleys Vision wandelt sich das Kino zur Immersions-Anstalt, die Ersetzung der unmittelbaren Erfahrung und die Stimulation der verschiedenen sensorischen Kanäle des Zuschauers führen zu einem „Kino der Sinne“ – darum auch ist feelies (= Fühlfilm) linguistisch den movies (= Bewegtfilm) nachgebildet. , In: „Feelies“, Lexikon der Filmbegriffe, Url: filmlexikon.uni-kiel.de
6.Grau, O. (2003), Virtual Art : From Illusion to Immersion, the MIT Press Cambridge, Massachusetts, London, England, S.46
7.Ebenso, S.26
8.Ebenso,S.29
9.Ebenso, S.54
10.“From 1966, Sutherland and his student Bob Sproull worked on the development of a head-mounted display (HMD) for the Bell Helicopter Company, in retrospect, an important place where media history was written. The HMD represented the first step on the way to a media utopia: a helmet with binocular displays in which the images on two monitors positioned directly in front of the eyes provided a three-dimensional perspective. When connected to an infrared camera,78 the apparatus made it possible for military pilots, for example, to land on difficult terrain at night. This helicopter experiment demonstrated that merely by using ‘‘camera-eyes,’’ a human being could immerse in an unfamiliar environment and be telepresent.”, In: Virtual Art : From Illusion to Immersion, S.163
11.Ebenso, S.58
12.Ebenso, S.60
13.Ebenso, S.17
14.Ebenso, S.153
15.Ebenso, S.106
16.Ebenso, S.341
17.Ebenso, S.348
18.Ebenso, S.349
19.Ebenso, S.350
20.“Forword”, In: Grau, O. (2003), Virtual Art : From Illusion to Immersion, the MIT Press Cambridge, Massachusetts, London, England, S.7

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