Man sieht oft etwas hundertmal, tausendmal,
ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht.
– Christian Morgenstern
Wie sehen wir eigentlich?
Warum sehen die Dinge so aus, wie sie aussehen?
Damit jemand überhaupt etwas sehen kann, sind gewisse Bedingungen zu erfüllen: es muss Licht vorhanden sein, die Augen müssen geöffnet sein, sich genau einstellen und fixieren, die empfindliche Schicht im hinteren Teil des Augapfels muss auf Licht reagieren und die Sehnerven müssen Impulse an das Gehirn weiterleiten. Ist auch nur eine dieser Voraussetzungen nicht gegeben, kann der Mensch nichts sehen. In gewisser Hinsicht sind Licht und Farbe das Rohmaterial des Sehens. Wir sind auf das reflektierende Licht im Raum und auf die Fähigkeit, Helligkeit und Farbton aufzunehmen, angewiesen, ohne diese könnten wir Gegenstände im Raum nicht wahrnehmen.
Allgemein kann die Wahrnehmung der visuellen Welt in zwei getrennte Bereiche geteilt werden:
1.) Zum einen in die Wahrnehmung der materiellen oder räumlichen Welt. Hierzu gehören Farben, Texturen, Oberflächen, Kanten, Gefälle, Formen und Zwischenräume. Sie stellt den mehr oder weniger gleichbleibenden Hintergrund unseres Erlebens und eine Art Stütze für die Regulierung der Körperhaltung und für die Fortbewegung dar. Diese Art von Wahrnehmung kann auch als „buchstäblich“ bezeichnet werden.
2.) Zum anderen in die Wahrnehmung der Welt nützlicher und bedeutsamer Dinge, auf die wir für gewöhnlich achten. Sie ist für uns die vertrautere Welt, der wir gegenüberstehen und setzt sich daher aus Gegenständen, Stätten, Leuten, Signalen und Schriftsymbolen zusammen. Sie ändert sich von Zeit zu Zeit und hängt von dem ab, womit wir uns gerade beschäftigen. Wir nehmen selektiv wahr, d. h., dass bestimmte Dinge an Bedeutung gewinnen, wobei andere einfach übersehen werden. Dadurch wird unsere Wahrnehmung verzerrt und verfälscht. Daher wird diese Art der Wahrnehmung auch als „schematisch“ bezeichnet.
Damit wir ein volles Verständnis der schematischen Welt haben können, muss zuerst die buchstäbliche verstanden werden, da sie uns ein Repertoire an Eindrücken für alles Erleben liefert. So hängen die zwei Bereiche unmittelbar miteinander zusammen.
Literatur:
Gibson, James J. : Die Wahrnehmung der visuellen Welt. Weinheim und Basel 1973.
Bildquelle:
Catanese, Matteo: https://unsplash.com/photos/4kbeSNph0Bo