Gesichtsfeld und visuelle Gewohnheiten

 (fig. Ausschnitt aus dem Screenshot im Google-Beitrag Hot and Cold: Heatmaps in VR: Zu sehen ist im roten Bereich die Hauptblickrichtung der Zuschauer )

Im Juni 2017 hat YouTube eine neue Analyse-Methoden für Content-Creators von 360-Grad- und VR-Videos zur Verfügung gestellt, welche Heatmaps enthalten. Dadurch konnte man genau erkennen, wohin die meisten Blicke der Betrachter wandern. Ziel dieses Features „sei es, die Arbeit der Videoproducer zu erleichtern“1, erklärt der deutsche online Zeitschrift Heise für Informations- und Telekommunikationstechnik, da Voraussetzung für die Heatmap-Ansicht mindestens 1000 Zuschauer beziehungsweise Aufrufe eines Videos“2. sind. Parallel dazu veröffentlichte YouTube in seinem Google Blog einen Einführungsartikel, in welchem eigene Forschungsergebnisse in Form von Tipps gegeben waren. („Hot and Cold: Heatmaps in VR“3.) So wurde unter anderem erklärt, dass auch wenn 360-Grad-Videos zwar dazu einladen sollen, in eine beliebige Richtung zu schauen, verweilen die Zuschauer jedoch 75 Prozent der Zeit innerhalb der 90 Grad direkt vor ihnen.4. Auch wenn diese Aussage erstmals eine allgemeine Enttäuschung gegenüber dem Medium ausgelöst hat, ist sehr schnell eine Reihe von interessanten Kritiken aufgetaucht, welche es ermöglichten, die Lage in Perspektive zu setzen.

„Leider geht die Auswertung von Google nicht im Detail auf die Endgeräte ein: Ist diese Heatmap bei allen Endgeräten gleich? Wie unterscheidet sich die Heatmap von Desktop-Nutzern von Smartphone-Videobetrachtern?“, hinterfragt beispielsweise Gerhard Schröder, Redaktor der Online Magazine Kreative Kommunikationskonzepte.5. In wie fern sind die Videokonzepte und Geschichten der Videos, welche in der YouTube Studie genutzt waren, für das 360-Grad-Format geeignet? Wie wurde der Sound Design die Geschichte im Raum unterstützen? Sind die aktuellen Wiedergabetechniken überhaupt optimal für den freien Genuss des Raums und der Bewegung im virtuellen, sowie in der realen, Welt 6.?

Die Aussage von YouTube – auch wenn sie Kontroverse erweckt hat –  stellt allerdings die Frage des menschlichen Gesichtsfelds und der visuellen Gewohnheiten. Naturwissenschaftlich ist das Gesichtsfeld der Menschen, aufgrund der Positionierung unserer Augen in dem Schädel und der allgemeinen Anatomie unseres Kopfes, sehr viel flacher als das der anderen Tiere. Auf geringe Distanzen scheint das menschliche Gehör besser für die Wahrnehmung von Objekten und Gefahr geeignet zu sein.


(fig. Oben: menschliche Gesichtsfeld, Unten: Gesichtsfeld des Rotwildes, In: Dauerausstellungsobjekt, Jagdmuseum Schloss Stainz )

Als soziales Tier, ist der Mensch ebenso von seinem Mitmenschen beeinflusst. Wenn der Kulturanthropologe und Literaturwissenschaftler René Girard (1923-2015) eine Theorie des mimetischen Verlangens etabliert hat, in welcher ein Subjekt durch die Augen eines vorbildhaften Vermittlers nach einem Objekt verlangt, könnte man einem ähnlichen Vorgehen für unsere Sichtweise adoptieren.

(fig. René Girards Dreieck der Verlangen)

Man könnte also vermuten, dass man in die Richtung blickt, welche standardmäßig gezeigt wird oder in welche die „anderen“ schauen? Interessanteweise zitiert der oben genannte YouTube-Artikel ein Video („Clash of Clans“7.) in dem eine Figur mit der Kamera in gewissen Massen „interagiert“ und den Zuschauer auf verschiedene Ereignisse aufmerksam macht.

(Video. Clash of Clans 360: Sei mittendrin, und erlebe einen Angriff in Virtual Reality!, url: https://www.youtube.com/watch?v=wczdECcwRw0)

Anekdotisch ist es auch interessant anzumerken, dass in der Malerei der Renaissance, in welcher die Perspektive und die Wahrnehmung des Raums ein großes Thema war, das wiederkehrende Motiv einer Figur (oft Johannes der Täufer oder der Künstler selbst) erschienen ist, welcher auf den Zuschauer blickt und mit seinem Zeigefinger auf ein Element des Bildes zeigt. Vielleicht Beweis dafür, dass Menschen Orientierung im plastischen Raum brauchen.

(fig. Hl. Johannes der Täufer in der Wüste, Raffael, 16.Jdh. )

(fig. Hl. Johannes der Täufer, Leonardo da Vinci, 16.Jdh. )

 

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  1. YouTube-Analytics: Heatmaps der User-Blicke in VR-Videos, Thomas Kaltschmidt, 18.06.2017, In: https://www.heise.de/newsticker/meldung/YouTube-Analytics-Heatmaps-der-User-Blicke-in-VR-Videos-3746304.html
  2. Ebenso
  3. „Hot and Cold: Heatmaps in VR“, 16.06.2017, In: Creator Blog, url: https://youtube-creators.googleblog.com/2017/06/hot-and-cold-heatmaps-in-vr.html
  4. “Focus on what’s in front of you: The defining feature of a 360-degree video is that it allows you to freely look around in any direction, but surprisingly, people spent 75% of their time within the front 90 degrees of a video. So don’t forget to spend significant time on what’s in front of the viewer.”, Ebenso
  5. “Wieso viele 360-Grad-Videos scheitern und was man dagegen tun kann”, Gerhard Schröder, 28.06.2017, In: https://kreativekommunikationskonzepte.de/360-grad-video-heatmap/
  6. Mehr dazu in der Kapitel“Es liegt an der Wiedergabetechnike aka. „User Experience““, In: “Wieso viele 360-Grad-Videos scheitern und was man dagegen tun kann”, Gerhard Schröder, 28.06.2017, In: https://kreativekommunikationskonzepte.de/360-grad-video-heatmap/, und „Abrocken mit 360° Content“ Kreative KommunikationsKonzepte GmbH, In: https://www.youtube.com/watch?time_continue=68&v=2xPFvhbC4Wg
  7. Clash of Clans 360: Sei mittendrin, und erlebe einen Angriff in Virtual Reality!, url: https://www.youtube.com/watch?v=wczdECcwRw0
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