Geschichte eines medialen Raums

(fig. James Turrell, Akhob, 2003, Ganzfelds, url: http://jamesturrell.com/work/akhob/ )

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Bericht
Gerling, W., „Die Kuppel als medialer Raum“, In: Overschmidt, G. und Schröder, U.B. (2013), Fullspace-Projektion. Mit dem 360° lab zum Holodeck, Springer Vieweg Verlag, Berlin, Heidelberg, Ss.41-66

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Der Professor für Konzeption und Ästhetik der Neuen Medien, Prof.Dr. Winfried Gerling, ist der zweite Referent der in diesem Blog schon erwähnten Artikelserie Fullspace-Projektion, welche sich dem 360°-Thema und seiner Anwendungen in Fullspace-Projektionen widmet. Gerling ergreift die Gelegenheit dieses zweiten Beitrags, um den historischen Hintergrund und die Entwicklung des Mediums zu skizzieren, und erinnert uns an die unterschiedlichen Funktionen, welche das Format in der Geschichte unterstützt hat.

Gerling stellt einen ersten Zusammenhang mit den Kuppeln her, welche die Städte architektonisch seit der Antike prägen und eine Urform der 360°-Narration durch ihre verzierten Wände anbieten.  Die Kuppeln sind ebenso narrativ in ihrer Architektur selbst, erklärt er: „In Bezug auf die Architektur ist die Kuppel auch Ort der Begrenzung respektive des Übergangs von innen nach außen oder eher von unten nach oben. In vielen Fällen sind Kuppeln weithin sichtbare Zeichen, die Orientierungshilfen in der Stadt und der Landschaft waren und sind, aber auch der Macht, wie die Kuppel des Petersdoms oder des Kapitols in Washington.“1

Wenn das narrative Programm allerdings horizontal bleibt und oft bloß in aufeinander gestapelte Registern2  dargestellt wird, wurde die 360°-Darstellungsfläche erst ab dem 17. Jahrhundert mit der Entdeckung der optischen Wissenschaft als eine Einheit wahrgenommen. In der Renaissance – erklärt Gerling – wird die Perspektivkunst „ein Anlass, um über Wirklichkeit und Illusion nachzudenken“3 ;  führt dabei zu dem Begriff von Betrachter-Standpunkt und zu einer ersten Form von Interaktion:

„Die Bewegung in der Kirche bringt dann auch das gemalte Himmelsgewölbe visuell zum Einstürzen. Nur der Einzelne ist in der Lage, vom idealen Betrachterstandpunkt aus Christus im Zentrum einer sinnvoll organisierten Welt zu sehen. Verlässt der Betrachter diesen Standpunkt, gerät diese Welt ins Wanken. Insofern ist die Bezogenheit auf einen Standpunkt eine in diesem Werk reflektierte Eigenschaft. Der Einsturz ist Teil des malerischen Programms, das sich als Illusion zu erkennen gibt und auf seinen symbolischen Gehalt verweist.“4

Gerling erwähnt ebenso die Einführung des Panoramabildes am Ende des 18. Jahrhunderts. Er erklärt, dass es sich hier um das „erste formatierte und genormte Bildmedium“5 handelt. „Der Bau und die Leinwandgrößen wurden schnell so standardisiert, dass die panoramatischen Gemälde auf Weltreise versandt werden konnten ähnlich einer Filmkopie, die in verschiedenen Kinos gezeigt wird.“6

Weiterhin zitiert Gerling eine Reihe von technischen Erfindungen, welche oft im Rahmen von Weltausstellungen präsentiert geworden sind:

Stereopticon

“A stereopticon is a slide projector or „magic lantern“, which has two lenses, usually one above the other. These devices date back to the mid 19th century, and were a popular form of entertainment and education before the advent of moving pictures. For a usual fee of ten cents, people could view realistic images of nature, history, and science themes. The two lenses are used to dissolve between images when projected. At first, the shows used random images, but over time, lanternists began to place the slides in logical order, creating a narrative. This „visual storytelling“ with technology directly preceded the development of the first moving pictures.”7

(Video: Mills Cathedral Stereopticon Machine, Keyland Schultz, 18.12.2012, url: www.youtube.com/watch?v=qESlKSuxG3U)

Cinéorama

“Cinéorama was an early film experiment and amusement ride presented for the first time at the 1900 Paris Exposition. It was invented by Raoul Grimoin-Sanson and it simulated a ride in a hot air balloon over Paris.”8

“For a short time, the panorama united with the new technology of cinematography in the Cinéorama .First presented at the 1900 World Exhibition in Paris, it was a hybrid medium: Ten 70mm films were projected simultaneously to form a connected 360° image. In fact, the walls of older panorama rotundas were often whitewashed and used as presentation spaces for the new cinematic version.” 9

(fig. Illustration of the Cineorama ballon simulation, 1900 Paris Exposition)

Cyclorama

„Beim Cyclorama wurde eine Leinwand an den Besuchern vorbeigezogen und damit beispielsweise eine Eisenbahn- oder Schifffahrt simuliert“. 10

(fig. Cyclorama, Blick auf die vier Leinwände und einen Eisenbahnwagon)

Movie-Drome (Stan VanDerBeek)

„Für Stan VanDerBeek fungierte der « Movie-Drome » als ein Interface, um mit dem Publikum zu interagieren und um es zur individuellen Wahrnehmung zu verwenden. VanDerBeek, der im Austausch mit Marshall MacLuhan stand, versuchte ein Computernetzwerk zu simulieren, das in unmittelbarer Nähe zu der an die neuen Technologien gekoppelten Idee McLuhans des „Global Village“ steht. Vorstellbar als datenbankbasiertes Archiv, dessen weltweit vernetzte Nutzer gleichzeitig zu Autoren werden sollten.“11

(Video: Stan VanDerBeek, Movie-Drome, url: https://vimeo.com/107947634)

(fig. Culture Intercom. A Proposal by Stan VanDerBeek, S.38)

Allerdings äußerte er sich nicht über das Thema und verweist seine Leserschaft an den Buch Oliver Graus, Virtual Art. From Illusion to Immersion (The MIT Press, Cambridge, London, 2003) für mehr Details über die verschiedene VR-Techniken des 20.Jahrhunderts.

Ebenso identifiziert Prof.Dr. Winfried Gerling den Künstler James Turrell und seine Arbeit um die „Wahrnehmungsfragen im strukturlosen Raum“ als einen wichtigen Beitrag zum immersiven Aspekt des 360°-Mediums. Er erklärt, dass, in diesem Zusammenhang, Turell, dessen Interesse vorrangig Licht, Farbe und Raum galt, sogenannte „Ganzfeld“-Umgebungen kennengelernt hat.12  In einer Fußnote bietet Gerling eine Definition an: „Ganzfelder sind farbige Flächen, die das gesamte visuelle Feld des Probanden ausfüllen, sie wurden u. a. von dem Psychologen Wolfgang Metzger in wahrnehmungspsychologischen Experimenten in den 30er-Jahren des 20.Jh.s eingesetzt.“13 In der Wahrnehmung einer Ganzfeld-Sphäre, schreibt Gerling, „entsteht eine räumlich nicht zu definierende farbliche Substanz, als sei der Raum mit Licht gefüllt und nicht als würde etwas Licht aussenden oder reflektiert.“14

(fig. James Turrell, Breathing Light, 2003, Ganzfelds, url: http://jamesturrell.com/work/breathing-light/)

(fig. James Turrell, Akhob, 2003, Ganzfelds, url: http://jamesturrell.com/work/akhob/ )

Gerling schließt seinen Beitrag mit einer Retrospektive auf die Geschichte des Kinos. Er unterstreicht eine Tendenz, welche spätestens mit der Einführung des Cinerama und CinemaScope-Formats angefangen hätte, „den Projektionsraum so zu erweitern, dass er über das Gesichtsfeld der Kinobesucher/innen hinausgeht“15. So, schreibt er,  wären „die 3D-Projektionsentwicklungen seit den fünfziger Jahren ein weiterer Versuch, in den Raum der Kinobesucher/innen (ein-)zu greifen und sie so uns Geschehen zu involvieren, dass das Medium transparent wird und möglichst keine Distanz mehr zum Erlebten zu spüren ist.“16 Um seine Argumentation zu unterstützen, zitiert er zwei Werbungen der 1950er: Eine Eingangszeile der 20th Century-Fox zu „How to marry a Millionaire“ (Billy Wilder, 1953), welche lautet: „!“17 und eine Werbung zu „The Robe“ (Henry Koster, 1953): „The new dimensional photographic marvel you see without glasses.“18

(fig. „The new dimensional photographic marvel you see without glasses“, The Robe in CinemaScope, 1954)

(fig. The Big-Time, Grand-Time, Great-Time show of all time in CinemaScope, How to marry a millionaire, 1954)

Auch wenn die historische Skizze Gerlings nicht immer umfassend oder sogar chronologisch ist, liefert er in diesem Artikel sehr interessante Perspektiven auf das 360°-Format und die Erscheinung von Problematiken, welche ihm aufgefallen sind:
Wie die Positionierung des Zuschauers gegenüber des Mediums, die Spannung zwischen der virtuellen Welt und der realen Welt außerhalb des Mediums , die Standardisierung des Formats oder die Schwierigkeiten mit der Vertikalität der Darstellung zu spielen.

 

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Prof. Dr. Winfried Gerling
Jahrgang 1963, Studium der Kunst- und Musikwissenschaft an der GH-Kassel von dort aus Wechsel in ein Studium der bildenden Kunst an der HDK-Berlin. 1994 Abschluss als Meisterschüler mit Installation und Fotografie. Von 1991-2000 Ausstellungen im Kunstkontext. 1996 Gründung einer Agentur für interaktive Medien mid GmbH Berlin, von 1999-2002 Creative Director. Projekte u.a. für das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt a.M., Gemäldegalerie Berlin, Stiftung Topographie des Terrors, Deutsche Pavillon Expo 2000 und das Museum der Dinge in Berlin. Ab 1999 Lehraufträge, Workshops und Vorträge an Hochschulen im In- und Ausland. Seit 2000 Professor für Konzeption und Ästhetik der Neuen Medien im Studiengang Europäische Medienwissenschaft, Fachhochschule und Universität Potsdam. Als Studiendekan an der FHP maßgeblich an Aufbau und Entwicklung des Studiengangs beteiligt. Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs. 1539, Sichtbarkeit und Sichtbarmachung –hybride Formen des Bildwissens und des Zentrums für Computerspielforschung DIGAREC in Potsdam. Seit April 2012 Dekan im Fachbereich Design an der Fachhochschule Potsdam.19

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  1. Gerling, W., „Die Kuppel als medialer Raum“, In: Overschmidt, G. und Schröder, U.B. (2013), Fullspace-Projektion. Mit dem 360° lab zum Holodeck, Springer Vieweg Verlag, Berlin, Heidelberg, Ss.41-66, S.41
    2.„Register (Kunst), die horizontale Gliederung eines Bildes oder Reliefs in formal selbständige Zonen oder Schichten“, url: de.wikipedia.org/wiki/Register
    3.Gerling, W., „Die Kuppel als medialer Raum“,S.45
    4.Ebenso, S.46
    5.Ebenso,S.48
    6.Ebenso.
    7.„Stereopticon“, url: en.wikipedia.org/wiki/Stereopticon
    8.„Cinéorama“, url: en.wikipedia.org/wiki/Cinéorama
    9. Graus, O.(2003), Virtual Art. From Illusion to Immersion, The MIT Press, Cambridge, London, S.147
    10.„Cyklorama“, url: de.wikipedia.org/wiki/Cyklorama
    11. Gerling, W., „Die Kuppel als medialer Raum“,S.55
    12.Ebenso, S.56
    13.Ebenso
    14.Ebenso
    15.Ebenso, S.61
    16.Ebenso.
    17. Ebenso.
    18.Ebenso.
    19.„Autorinnen und Autoren“, In: Overschmidt, G. und Schröder, U.B. (2013), Fullspace-Projektion. Mit dem 360° lab zum Holodeck, Springer Vieweg Verlag, Berlin, Heidelberg,  S.372

 

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