Interaktionstheorien für 360°-Installationen und Computerspielen

(fig. Future vision concept art of room scale holographic display from Light Field Lab, Quelle: “Light Field Lab and OTOY Making the ‘Star Trek’ Holodeck a Reality”, AWN Staff Editor, 22.10.2018, url: www.awn.com)

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Bericht

Schröder, U.B., „Erforschung von 360°-Welten. Überlegungen und sozialwissenschaftliche Rekonstruktion von Handlungspraxen in der Auseinandersetzung mit dem 360°-Medium“, In: Overschmidt, G. und Schröder, U.B. (2013), Fullspace-Projektion. Mit dem 360° lab zum Holodeck, Springer Vieweg Verlag, Berlin, Heidelberg, Ss.67-86

Ritter, M., „Design interaktiver und immersiver Erlebnisse“, In: Overschmidt, G. und Schröder, U.B. (2013), Fullspace-Projektion. Mit dem 360° lab zum Holodeck, Springer Vieweg Verlag, Berlin, Heidelberg, Ss.101-121

Bauer, H., „Spielen im 360°-Raum“, In: Overschmidt, G. und Schröder, U.B. (2013), Fullspace-Projektion. Mit dem 360° lab zum Holodeck, Springer Vieweg Verlag, Berlin, Heidelberg, Ss.175-185

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In dem zweiten Teil des Artikelkorpus, welche unter dem Namen Fullspace-Projektion existiert. Mit dem 360°lab zum Holodeck von dem Springer Vieweg Verlag 2013 veröffentlicht wurde, wurden unter anderem eine Serie von Beiträge präsentiert, welche die Interaktionsmöglichkeiten in 360°-Installationen und Computerspielen thematisieren. Wenn diese Artikel oft Schlussfolgerungen ziehen, welche für 360°-Filme auf Grund ihrer vergleichsweise geringeren Interaktionsbedürfnisse kaum anwendbar sind, beinhalten sie nichtsdestotrotz wichtige Begriffe und Konzepten für das Verständnis des Interaktionsparadigmas.

Flow-Theorie

Beispielsweise präsentiert der Medieninformatiker und –designer Marko Ritter den Begriff von „Flow“, welche von dem emeritierten Professor Csikszentmihalyi (Psychologie – University of Chicago) theorisiert war. Er erklärt, dass Flow einen speziellen Geisteszustand darstellt, „der bei voller Fokussierung auf eine spezielle Tätigkeit eintreten kann.“1 „Im Allgemeinen“, schreibt er, „geht die Flow-Theorie davon aus, dass es ein Optimum aus der Herausforderung, die eine Tätigkeit darstellt und der Belohnungskraft, die diese Tätigkeit erzeugt, existiert. Dieses Optimum kann man sich als einen individual-spezifischen Grat zwischen Überforderung und Langeweile vorstellen, bei dem sich die eigenen Fähigkeiten mit den gestellten Problemen decken.“2  Weiterhin berichtet Ritter eine Festlegung  des chinesischen Game Designers Jenova Chen: „mit einem Flow-Erleben selbst komplizierte geistige Arbeit oder starke körperliche Anstrengung fühlt sich „spielerisch““.3
Ritter erklärt, dass das Objektiv den Flow zu fördern die letzten Jahre dazu geführt hat, nicht-lineare Erzählungen in Computerspielen zu entwickeln: „Da die Fertigkeit für jeden Nutzer individuell ist, ist auch das Optimum zwischen gestelltem Problem und jener Fertigkeit individuell. Deshalb lässt sich bei modernen Computerspielen eine Entwicklung weg von linearer und strikt levelbasierter Erzählung hin zu einer offeneren und nicht-linearen Spiel-Welt nachweisen. Der Nutzer kann so selbst den Zeitpunkt bestimmen, wann er beispielsweise das Tal des Friedens verlässt, um den Berg der Monster zu überwinden.“4

(fig. Flow Zone factors, In: Chen J (2007) Flow in Games (and Everything else), CACM 50(4):31-34, S.32)

(fig. Different players have different Flow Zones, In: Chen J (2007) Flow in Games (and Everything else), CACM 50(4):31-34, S.32)

(fig. Designers adapt players’ Flow experience through the choices they deliberately build into the experience, In: Chen J (2007) Flow in Games (and Everything else), CACM 50(4):31-34, S.32)

 

Spielmetaphern
Die Erziehungswissenschaftlerin Ute B. Schröder präsentiert in ihrem Beitrag die Schlussfolgerungen einer Serie von Interviews, welche sie auf Besucher einer interaktiven Kunstinstallation geführt hat. Sie berichtet, dass die Mehrzahl der Interviewten die Erfahrung als „spielerisch“ wahrgenommen haben und, dass die Installation oft durch die Interaktionsmöglichkeiten, die sie anbietet, mit Computerspielen assoziiert wird.5 Ritter erklärt: „Bei der Konzeption interaktiver Installationen hat es sich oft als hilfreich erwiesen, die Installation als spielerische Umgebung zu formulieren, und das gänzlich unabhängig davon wie ernst der vermittelte Inhalt ist. Die Benutzung der Installation soll in sich Freude machen („Joy of Use“), auch wenn die Installation im Ganzen andere Ziele verfolgt.“6 Dabei hat Ritter vier grundsätzliche spielerische Interaktionsarchetypen identifiziert, die geeignete Metaphern darstellen: Theaterspiel, Spiel, Spielzug und Spielplatz:
Theaterspiel
„Ein Theaterspiel ist eine Dramaturgie, die in begrenztem Masse durch den Benutzer gestaltet werden kann und ähnelt einer Geschichte, die jemandem erzählt wird und auf dessen Reaktionen und Einwürfe der Erzähler eingeht. […] Das Publikum kann etwa Einfluss auf die Erzählgeschwindigkeit haben, Details vertiefen, alternative Enden provozieren o.ä. Es ist dabei aber immer in einer zwar flexiblen, aber vorgegebenen Dramaturgie eingebunden.“7
Spielzeug
„Ein Spielzeug ist ein Artefakt, das verschiedene, flexible Möglichkeiten den Benutzung bietet.“8
Spielplatz
„Ein Spielplatz ist eine Ansammlung verschiedener Spielzeuge, die sowohl unabhängig als auch miteinander bedient werden, Ihre Wirkung kann demzufolge ebenfalls unabhängig oder miteinander verschränkt ausfallen.“9
Spiel
„Ein Spiel ist für uns eine durch vorgegebene Regeln und Belohnungen abgeschlossene Inszenierung.“10

 

Infosphäre und Holodeck
Ute B. Schröder zitiert in ihren Beitrag die Theorie des Medienwissenschaftlers Frank Hartmann, welche vier chronologische Mediensphären unterscheidet: „die Logosphären, nach Erfindung der Schrift; die Grafosphäre, nach Erfindung des Drucks, die Videosphäre nach Erfindung audiovisueller Medien und die Infosphäre, der Übergang in die Digitalkultur.“ 11 Schröder erklärt, dass im Zuge der Digitalisierung gleichzeitig von einem Verlassen der linearen hin zu einer vernetzten Kommunikationskultur gesprochen wird: „Die Medienkultur bewegte sich in den letzten Jahrzehnten offenkundig vom Organisationsprinzip der Sendung zu dem der Vernetzung (…) Immer mehr Informationen sind gleichzeitig vorhanden, immer mehr Wahrnehmungen sind unabhängig von Zeit und Raum möglich.“12 Die Zukunft dieses vernetzten Kommunikationsmodus sieht Schröder in einem Format namens „Holodeck“. Ein Holodeck, schreibt sie, „ist eine beliebige, virtuell erzeugte Welt, deren Umgebungen, Gegenstände und Personen nicht nur visuell und akustisch, sondern auch haptisch und olfaktorisch wahrgenommen werden können.“13 Laut Schröder wird in der Produktion von 360°-Inhalten und Holodecks keine lineare Erzählstruktur verfolgt, sondern eine vernetzte, „die gleichfalls dem zunehmenden Selbstverständnis vernetzter Kommunikation entspricht.“14 So, fügt sie hinzu „können während des Rezeptionsprozesses bspw. Entscheidungen getroffen werden, welcher Erzählstrang verfolgt wird, wie diese gekoppelt werden  oder es gibt die Möglichkeit bspw. des spielerischen Interagierens.“15

(fig. William Riker entering a Holodeck simulation, Star Trek Next Generation, Quelle: url: http://theconversation.com/star-treks-holodeck-from-science-fiction-to-a-new-reality-74839)

Schröder betont allerdings, dass das Empfangen 360°-Inhalts eine Lernphase benötigt: „Der Mensch muss einen neuen Medienkonsum lernen. „16  Während der Interviews, die sie geführt hat, hat sie feststellen können, dass sich die Besucher und Besucherinnen nach einer gewissen Zeit alle in eine gemeinsame zentrale Blickrichtung ausrichten. „Der Mensch“ schreibt sie „muss erst lernen die Möglichkeiten des 360°-Raums zu erschließen und die vorhandenen Interaktionsangebote zu nutzen.“17

Fixationspunkten
In seinem Artikel „Spielen im 360°-Raum“ erwähnt Henry Bauer den Begriff von „Fixationspunkt“, welche die Spielindustrie seit einigen Jahren beschäftigt hat. „Beim Gamedesign“ erklärt er „müssen in den einzelnen Szenen die Fixationspunkte antizipiert werden – das heißt, wo ist gerade die Aufmerksamkeit des Spielers, wohin schaut er.“18 Diese visuellen Bereiche spielen die Rolle von Stationen, zwischen welche der Blick des Spielers durch verschiedene Mittel gelenkt werden muss. „Beispielsweise“ erklärt er „kann, wenn der Fixationspunkt in Front des Spielers ist, von hinten ein bedrohlicher Sound seine Aufmerksamkeit wecken und eine ganze Körperdrehung verursachen.“19 Die Aufmerksamkeit des Spielers kann über helle, dunkle und farbige Flächen auf den gewünschten Fixationspunkt gelenkt werden, aber auch, suggeriert er, durch gezielte Brüche in der Konsistenz des audiovisuellen Erlebens im Spiel.20

 

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Henry Bauer
„Jahrgang 1979, Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Technischen Universität Berlin. Als Chief Technology Officer und Kundenberater ist er für die technisch-strategische Steuerung, Technologie-Trends und Innovationsthemen der Exozet Gruppe zuständig. Experte für Software Engineering und Business Process Modeling, langjährige Berufserfahrung in der Projektierung komplexer Applikationen und Content Management Systeme. Als Produktmanager ist er beteiligt an der Weiterentwicklung der von Exozet eingesetzten Inhouse-Technologien.“21

Marko Ritter
„Jahrgang 1980, Studium der Medieninformatik an der TU Dresden und IIT Bombay. Designstudium Multimedia und VR-Konzeption an der Burg Giebichenstein in Halle/Saale. Forschungsposition für interaktive Industrieanwendungen an der HTW Dresden. Seit 2009 Mitgründer und geschäftsführender Inhaber von intolight, einem Studio für Digitales Design in Dresden. Fokus des Studios sind interaktive Installationen für Messen, Museen und Festivals. Immersion ist in diesen Installationen häufig Mittel und Teilziel. Ein regelmäßig wiederkehrendes Element der Arbeit von intolight sind in Echtzeit berechnete 360°-Projektionen, die Interaktion und Partizipation zulassen.
Praktisch und theoretische Beschäftigung mit der Thematik Immersion und Interaktion führten Ritter zu einem erweiterten Immersionsbegriff, der auch handlungspychologische Elemente umfasst.“22

Ute B. Schröder
„Jahrgang 1967. Studium der Erziehungswissenschaften an der Freien Universität Berlin. Weitergehende Qualifizierungen in den Bereichen Qualitative Sozialforschung, Sozialmanagement und Evaluation. Seit 2005 als Wissenschaftlerin und Geschäftsführerin für das centrum für qualitative Evaluations- und Sozialforschung e.V.bzw. ces service UG und seit 2012 zusätzlich u.a. Wissenschaftlerin bei der e-fect eG tätig. Forschungs- und Evaluationsprojekte für verschiedene Vereine, Organisationen, Unternehmen und staatliche Einrichtungen. Zusammenarbeit mit ZENDOME und Begeisterung für 360° seit 2008. Entwicklung, Evaluation und Marktforschung in diesem Bereich seit 2008. Forschungspraktische Begleitung des Innovationsforums 360° lab.“23

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Beispiele 360°-Installationen

iLand, Marko Ritter, 2009
(Video: iLand – an interactive fulldome installation, vimeo: url: https://vimeo.com/9936775)

IDOL TASK, Jürgen Lösel, 2009,
opening of Cynetart at the festival theatre Hellerau

26.11.2009, DEU, Sachsen, Dresden, CYNETART, IDOL TASK (Quelle: url: https://www.flickr.com/photos/body-bytes/4140147521/)

 

SINNESLANDSCHAFTEN, Christoph Sandig, 2012

(Video : url: http://jacobkorn.de/news/installation-sinneslandschaften-im-grassi-museum-leipzig.html )

 

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1.Ritter, M., „Design interaktiver und immersiver Erlebnisse“, In: Overschmidt, G. und Schröder, U.B. (2013), Fullspace-Projektion. Mit dem 360° lab zum Holodeck, Springer Vieweg Verlag, Berlin, Heidelberg, Ss.101-121, S.103
2.Ebenso.
3. Chen J (2007) Flow in Games (and Everything else), CACM 50(4):31-34, In: Ritter, M., „Design interaktiver und immersiver Erlebnisse“,S.103
4. Ritter, M., „Design interaktiver und immersiver Erlebnisse“,S.103
5. Schröder, U.B., „Erforschung von 360°-Welten. Überlegungen und sozialwissenschaftliche Rekonstruktion von Handlungspraxen in der Auseinandersetzung mit dem 360°-Medium“, In: Overschmidt, G. und Schröder, U.B. (2013), Fullspace-Projektion. Mit dem 360° lab zum Holodeck, Springer Vieweg Verlag, Berlin, Heidelberg, Ss.67-86, S.80
6. Ritter, M., „Design interaktiver und immersiver Erlebnisse“,S.105
7.Ebenso.
8.Ebenso.
9.Ebenso, S.106
10.Ebenso.
11. Hartmann F(2008), Medien und Kommunikation, Facultas, Wien, S.96, zitiert in: . Schröder, U.B., „Erforschung von 360°-Welten. Überlegungen und sozialwissenschaftliche Rekonstruktion von Handlungspraxen in der Auseinandersetzung mit dem 360°-Medium“,S.69
12.Ebenso, S.70
13. . Schröder, U.B., „Erforschung von 360°-Welten. Überlegungen und sozialwissenschaftliche Rekonstruktion von Handlungspraxen in der Auseinandersetzung mit dem 360°-Medium“,S.67
14. Ebenso,S.68
15.Ebenso.
16.Ebenso, S.83
17.Ebenso.
18. Bauer, H., „Spielen im 360°-Raum“, In: Overschmidt, G. und Schröder, U.B. (2013), Fullspace-Projektion. Mit dem 360° lab zum Holodeck, Springer Vieweg Verlag, Berlin, Heidelberg, Ss.175-185, S.179
19.Ebenso, S.179
20.Ebenso, S.180-182
21. „Autorinnen und Autoren“, In: Overschmidt, G. und Schröder, U.B. (2013), Fullspace-Projektion. Mit dem 360° lab zum Holodeck, Springer Vieweg Verlag, Berlin, Heidelberg, S.368
22.Ebenso,  S.381
23.Ebenso,  S.384

 

 

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