Der Irrglaube über Lerntypen

Seit circa 50 Jahren besteht die allgegenwärtige Auffassung vieler Menschen, dass es Lerntypen bzw. Lernmodalitäten pro Person gibt. Nämlich jene Menschen, die sich durch visuelle Darstellungen am besten Wissen aneignen, andere wiederum durch auditiven Input und wieder andere durch taktil-kinästhetische Vorgänge. Geprägt wurden diese Modalitäten z.B. von Walter Burke Barbe und seinen Kollegen und mit „VAK“ abgekürzt. Allerdings herrscht seit vielen Jahren bereits Kritik an dieser Theorie, denn darauf aufbauend hat sich der Glaube etabliert, dass der beste Weg, einem Kind etwas beizubringen, stets jener sei, der auf den Lerntypen des Kindes abzielt und dass jedes Kind bzw. grundsätzlich jeder Mensch in eine der drei Kategorien sortiert werden könne. Die Theorie, dass Schüler oder Studenten mehr lernen, wenn der jeweilige Lehrinhalt in ihrer jeweiligen Modalität präsentiert wird, scheint nicht nur Sinn zu ergeben, sondern scheint auch durch Klassenzimmer-Erfahrungen gestützt zu sein. Dadurch ergibt sich die Hoffnung für Lehrer und Professoren, dass der Lernprozess einer lernenden Person verstärkt, erleichtert und beschleunigt werden kann, wenn die jeweiligen Inhalte für jeden Lerntyp aufbereitet werden. Aber weswegen wird diese Theorie dann inzwischen von vielen Wissenschaftlern angezweifelt?

In D. T. Willinghams Artikel (2005) über Psychologen im Bereich des Kognitivismus werden vom Autor drei wichtige Feststellungen getätigt:

  1. Gewisse Erinnerungen werden als visuelle oder auditive Repräsentationen gespeichert – aber die meisten werden in Bezug auf ihre jeweilige Bedeutung gespeichert
  2. Die verschiedenen visuellen, auditiven und bedeutungs-basierten Repräsentationen in unseren Gedächtnissen können nicht miteinander ausgetauscht bzw. substituiert werden
  3. Kinder sind möglicherweise unterschiedlich bezüglich ihrer visuellen oder auditiven Erinnerungsfähigkeiten, aber dadurch ergibt sich in den meisten Situationen kein hinreichend essentieller Unterschied im Klassenzimmer

Diese Feststellungen werden im Folgenden genauer erläutert.

Ad 1.)
Ein wichtiges Research-Ergebnis von Wissenschaftlern ist, dass Erinnerungen üblicherweise unabhängig davon, wie sie aufgenommen wurden, gespeichert werden. Stattdessen wird eher die Bedeutung hinter den aufgenommenen Informationen relevant. Z.B. wird das Wissen darum, dass Feuer Sauerstoff benötigt, um zu brennen, eher in unwahrscheinlichen Fällen visuell oder auditiv im Gedächtnis verinnerlicht. Die erste Erfahrung, bei welcher man diesen Vorgang erlebt und gelernt hat, ist vielleicht visuell (z.B. wenn eine Kerze erstickt, sobald ein Glas darüber gestellt wird) oder auditiv (z.B. eine Erklärung davon im Chemie-Unterricht hören), aber die resultierende Repräsentation dieses Wissens im eigenen Gedächtnis ist weder visuell noch auditiv.
Erforscht wurde dieses Ergebnis von kognitiven Wissenschaftlern durch die Arten von Fehlern, die Menschen bei Erinnerungstest machen. Leute, die einer Geschichte zugehört haben, werden später Sätze „erkennen“, die nie in der Story aufgetaucht sind – solange diese neuen Sätze damit einhergehen, was die Geschichte im Kern aussagen wollte. Diese Fehler wurden auch bei ausschließlich visuell-aufbereiteten Lerninhalten beobachtet. Die Erinnerungen an exakte Bilder, die eine Bildergeschichte ergeben (z.B. die Blickrichtung eines abgebildeten Charakters oder Details im Hintergrund), gehen schnell verloren, wohingegen die Bedeutung der Geschichte den Menschen bleibt.
Das bedeutet allerdings nicht, dass keine Informationen auditiv oder visuell abgespeichert werden können, sondern eher, dass unser Gedächtnis dazu im Stande ist, Erinnerungen in unterschiedlichen Formaten abspeichern kann, wobei Laboruntersuchungen ergeben haben, dass ein einziges Erlebnis generell zu mehr als einer Art einer Repräsentation führt. Denn, was letztendlich als Wissen abgespeichert wird, ist das, was sich die Person beim Erlernen der Information in diesem Moment gedacht hat.

 

Ad 2.)
Auch der Grund, weswegen unsere Köpfe dazu fähig sind, Informationen in unterschiedlichen Formaten abzuspeichern, ist recht logisch, denn unterschiedliche Repräsentationen sind mehr oder weniger effektiv, um verschiedene Typen von Informationen abzuspeichern. Dementsprechend sind visuelle Darstellungen z.B. weniger erfolgreich darin, Bedeutungen abzuspeichern, da „ein Bild mehr als tausend Worte sagt“ und deswegen auch unterschiedliche Bedeutungen und Interpretationen zulässt. Weil diese unterschiedlichen Erinnerungs-Repräsentationen unterschiedliche Typen von Informationen beinhalten, ist es üblicherweise nicht möglich, eine Repräsentation mit einer anderen auszutauschen oder sie zu ersetzen.

 

Ad 3.)
Es ist zwar nicht unwahrscheinlich, dass ein Kind, das z.B. visuell affiner ist als ein anderes Kind, visuelle Informationen in der Schule leichter und besser wahrnehmen kann, jedoch darf die Tatsache nicht außer Acht gelassen werden, dass Lehrer in den meisten Fällen von ihren Schülern nicht wissen möchten, wie etwas aussieht oder wie es sich anhört, sondern was die Bedeutung hinter einem Bild oder einem Musikstück ist. Zwar gibt es Ausnahmen z.B. im Fach Geografie, in welchem es von Vorteil für ein Kind wäre, visuell affiner zu sein, um sämtliche Flüsse Europas auf einer Karte einzuzeichnen oder im Sportunterricht, in dem taktil-kinästhetisch begabte Kinder einen Vorteil darin besitzen, eine Sportübung zu verinnerlichen, jedoch herrscht in der Mehrheit der Fälle, was Schülern beigebracht wird, der Fakt, dass sie sich Bedeutungen merken sollen. Dementsprechend erbringt ein Lerntyp in Klassenzimmern nur bedingt Vorteile, wenn die Lehrinhalte diesem Lerntyp entsprechend aufbereitet werden. Die Idee, dass sich das Unterrichtsmaterial auf die Lerntypen der Schüler richten soll, wurde demnach laut D. T. Willingham in einer Vielzahl von Research-Tests und Experimenten widerlegt.

 

Zwar kann niemals festgestellt werden, dass die Modalitätstheorie komplett inkorrekt ist, weil es stets möglich ist, dass bisher nicht nach den richtigen Beweisen gesucht wurde, doch durch die bereits etablierten, wissenschaftlichen Erkenntnisse ergibt sich folgende Konsequenz:

Lehrer sollten sich an der besten Modalität, die der Inhalt benötigt, orientieren und nicht an dem Lerntyp der Schüler, die damit unterrichtet werden.

Das bedeutet also, dass Lehrer sich sehr wohl darüber Gedanken machen sollen, in welcher Modalität ihr Unterrichtsmaterial präsentiert wird, aber ihr Ziel sollte dabei nicht sein, den Lerntyp ihrer Schüler zu finden und den Inhalt darauf auszurichten, sondern die beste Modalität für den Inhalt zu finden und diesen danach aufzubereiten. Das bedeutet, dass die Modalität im Klassenzimmer letztendlich für alle Schüler im Großen und Ganzen gleich wirkt und nicht von Lerntypen abhängig ist.


 

Quellen:
Willingham, D. T. (2005). Do visual, auditory, and kinesthetic learners need visual, auditory, and kinesthetic instruction. American Educator, 29(2), 31-35.

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